Orte voller Legenden und Eindrücke, eine Welt der Vergangenheit, die durch große Felsen zu uns spricht. Diese Stimmung erleben Sie in Pranu Mutteddu in Goni und Bir’e Concas in Sorgono, im grünen Herzen der Insel, wo hunderte Menhire zu finden sind: allein, zu zweit, im Kreis oder in langen Reihen aufgestellt symbolisieren sie rituelle Pfade, die sich wahrscheinlich an Himmelserscheinungen orientieren. Magie, Heiligkeit und magnetische Kraft, wie im berühmten Stonehenge, aber hier sind die Menhire viel älter und zahlreicher.
‘Wie ein Messer’ in den Boden getrieben, zeigen die Perdas Fittas (auf Sardisch, hineingesteckte Steine) zum Himmel und sind von einer märchenhaften Landschaft umgeben: jahrhundertealte Eichenwälder, Wiesen mit Alpenveilchen und wilden Orchideen, Lavendel- und Myrtebüsche, die ihren Duft verströmen. Auch der Himmel leistet seinen Beitrag: Die Sonne dringt durch die kraftvolle Natur und die spitz zulaufenden, langen Steine erstrahlen im schimmernden Licht. Sie sind Zufluchtsorte der Seele, sinnliche Orte, die die Fantasie anregen: Ist das alles wahr oder ist es ein von der Natur erzähltes Märchen?
Aus der Tiefe zur Erde hervortretend und dann in den Himmel zeigend. Menhire sind eine Tür zum Himmlischen. Vor fünftausend Jahren wurden sie eigentlich nur durch Wind und Wetter geformt, später eingeritzt und gemeißelt, wodurch sie eine immer menschlichere Form annahmen, wahrscheinlich, um die Vorfahren zu ehren. Um bei Empfängnis oder Geburt, für gute Ernten oder bei der Reise in Jenseits, die Götter wohlwollend zu stimmen, wurden sie mit Händen und Bauch berührt, mit Flüssigkeiten begossen und mit Opfergaben geschmückt. Ihre Heiligkeit hat Jahrtausende überdauert, ein Bund mit archaischen Wurzeln, der von der Kirche ungern gesehen wurde, so dass Papst Gregor der Große gegen Ende des 6. Jahrhunderts die Sarden als „Anbeter von Stämmen und Steinen“ betitelte. Weitere Päpste ordneten an, die Menhire niederzureißen. Auch einige Könige, wie Karl der Große. Trotz der Verteufelung ist nicht alles verloren gegangen. Etwa tausend Menhire, auf der ganzen Insel verstreut, stehen noch. Auch nach fünftausend Jahren ist ihr heiliger Charakter noch lebendig: seit dem 20. Jahrhundert machen fromme Menschen für ein Gebet halt. Seitdem tragen viele Perdas Fittas die Namen Heiliger.
Sie sind auch in der Meeresnähe zu finden: in Cuili ‘e Piras, in der ländlichen Gegend von Castiadas, gibt es über 50. Und nur wenige Kilometer von Oristano entfernt befindet sich das ‘Tal der Menhire’ von Villa Sant’Antonio, wo der höchste Menhir der Insel, su Corru Tundu, steht. Viele vereinzelte Menhire sind auf Wanderwegen und an Straßenrändern anzutreffen, an alten Kreuzungen und auf den Pfaden der Transhumanz, Hüter der Naturkreisläufe und irdischer Ereignisse. Andere wiederum bewachen Gräber: Meist sind Spiralen, konzentrische Kreise, menschliche Figuren und kleine Vertiefungen, die sogenannten ‘Coppell’, eingemeißelt, eine verschlüsselte Sprache, die in der sardischen Vorgeschichte bekannt war. Tief in den Stein eingravierte Zeichen, wie jene der Stele von Boeli, auch bekannt als sa Perda Pintà, eine große Menhir-Statue aus Granit, sorgfältig mit Zeichnungen und Gravuren verziert, die am Ortseingang von Mamoiada zu sehen ist.
Im Laufe der Zeit haben einige ihre heilige Aura verloren und sind achtlose Versteinerungen geworden. In Sant’Antioco stehen zwei Menhire nebeneinander, su Para ‘e sa Mongia, Mönch und Schwester, die gemäß der Legende vom göttlichen Zorn bestraft wurden, als sie miteinander durchbrannten. In Villaperuccio, in der Nähe der Nekropole von Montessu, steht der Menhir Luxia Arrabiosa, eine wunderhübsche Jana, eine Figur zwischen Fee und Hexe, die in Volkssagen auftaucht. Spuren der legendären Luxia sind auch auf dem Prabanta-Hügel, beim Berg Arci zu finden: In der Gemeinde Simala steht das Menhiren-Paar namens sa Turra ‘e sa Cullera (Schöpfkelle und Löffel); in Morgongiori, in der Nähe einer Domus de Janas (Haus der Feen), erhebt sich der Menhir su Furconi de Luxia Arrabiosa. Er steckt dort versteinert in der Erde, seit die schöne Lucia von einem Faun bedroht wurde, der in sie verliebt war, dessen Liebe von ihr aber nie erwidert wurde. Um sich zu befreien, erschlug sie in mit einem Feuerhaken.
In Allai, in Ruinas und vor allem in Laconi können Besucher modernere Menhire, stilisierte menschliche Figuren, bestaunen: Es sind Nase und Augenbrauen, anatomische Details, Bekleidung und Waffen zu erkennen. In der Regel wurden auf der Oberfläche zwei übereinander angeordnete Figuren eingraviert: ‘die Umgekehrte’, der Geist des Verstorbenen, der auch in den Felsengräbern von sas Concas in Oniferi auftaucht und der ‘Doppeldolch’ ‘’, der ägyptischen Hieroglyphen ähnelt und die Gebärmutter darstellt, was auf den Einfluss höher entwickelter Zivilisationen des Mittelmeerraumes und vornuraghische, sardische Völker hinweist. Diese Gravuren stellen gemeinsam die menschliche Seele dar, die durch die Mutter zur Erde zurückkehrt. Laconi ist auch Sitz des Menhir-Museums, in dem 40 außergewöhnliche Kunstwerke aufbewahrt werden, die zwischen der Bronzezeit und dem Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. entstanden sind.