Es war eine Gruppe großer Künstler, die in einer historischen Zeit des sozialen und kulturellen Umbruchs den kreativen „Funken“ zündete. Die Geschichte der Wandmalereien auf Sardinien hatte in einer kleinen, regen Stadt des ländlichen Raums des Campidano ihren Ursprung und mit der Zeit folgten andere von der Barbagia bis zur Planargia, und auch weiter im Norden. Kurzum die Insel wurde zum Mittelpunkt der Wandmalerei. Teilweise, um verfallene malerische Winkel, Rohziegelmauern und halb verlassene Gassen wiederzubeleben, vor allem aber um dem Wunsch nachzukommen, den Ruf des Protests und des Leids, der die gesamte Gemeinschaft betraf, lauter werden zu lassen. Jahre später entzündete sich eine freie, spontane neue „Flamme“. Diesmal sind es einheimische und nicht einheimische, junge, aber bereits international anerkannte Künstler, die das Stadtgefüge verändern und wiederbeleben. Von den Wandmalereien zur Street Art, vom Protest zum Experiment steht Sardinien immer im Mittelpunkt des Geschehens, wie eine riesige Farbpalette.
Wenn vom „Museumsort“ gesprochen wird, denkt man gleich an San Sperate. 1968 beschließt ein Künstler, nachdem er Europa bereist hatte, heimzukehren. Die Rede ist von Pinuccio Sciola, der mit einer Gruppe von Freunden auf die Mauern des Ortes eine Kalkschicht auftrug und diese mit Alltagsszenen füllte. Heute zählt man in San Sperate, das auch für seine köstlichen Pfirsiche berühmt ist, über 200 Wandmalereien, die Besucher aus aller Welt anziehen.
Ein paar Jahre später löste in Villamar ein Treffen zwischen chilenischen Exilanten und einheimischen Künstlern einen kreativen Aufruhr aus, der dazu führte, dass das Dorf mit Szenen geschichtlicher Ereignisse geschmückt wurde. Nicht weit davon entfernt, in Serramanna ist das ergreifende Werk ‘emigrazione è deportazione’ (Emigration ist Deportation) zu sehen, das acht Hände 1979 geschaffen haben: Thema ist die Notwendigkeit, zu emigrieren, um sich eine Zukunft zu sichern. Die „lebendige“ Erinnerung an die Traditionen prägt die Werke, die auf die Wände der in die Malvasier-Weinberge von Planargia versunkenen Dörfer gemalt sind: Flussio, Sennariolo, Montresta, wo die schwarzen Hintergründe ins Auge stechen, und der Ort Tinnura, der im Verhältnis zu der dort ansässigen Bevölkerung die höchste Konzentration an Wandmalereien verzeichnen kann.
Orgosolo ist der Ort der Wandmalereien schlechthin. Dessen über 150 Werke sind voller Emotionen, Protest und sozialen Ansprüchen. Bei einem Spaziergang durch die Gassen dieses Dorfes der Barbagia geht man auf eine Reise in die Vergangenheit und der Stolz einer Gemeinschaft, die ihre Persönlichkeiten feierte und ihre Traditionen zu schützen versuchte, ist beeindruckend. Viele Menschen kommen jedes Jahr in diesen Ort, um in dessen Atmosphäre einzutauchen, den Gesängen der Tenores zu lauschen und den Reiz des Supramonte. zu ergründen.
Wandmalereien sind in der Barbagia und in Zentralsardinien (Ogliastra, Baronia und Marghine) auch gleichbedeutend mit Loceri, Borore, Fonni, Irgoli, Mamoiada und Oliena. Hier werden der Alltag, Momente der Geselligkeit, Reize des Gebiets sowie Karnevalsfeste und -masken gefeiert. Eine „Brücke“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist auf den Mauern von Palau vor dem türkisblauen Meer der Gallura dargestellt. Figuren in Trachtenkleidung und Szenen aus dem zeitgenössischen Leben bestehen neben Landschaft und Architektur, durch die man in eine Dimension jenseits von Raum und Zeit entführt wird.
In den 2000er Jahren wurden neue künstlerische Fermente „losgebrochen“. Es entstehen Kollektive und Vereine, Straßenkünstler von der Halbinsel engagieren sich, Städte wie Cagliari, Olbia und Sassari fassen den Entschluss, städtische Bereiche dem Ausdruck einer originellen Art, das sardische Leben darzustellen, zu widmen. Dabei ist manchmal auch wieder ein soziales Engagement zu spüren, vor allem in Hinblick auf Umweltschutz. San Gavino Monreale ist der Inbegriff der neuen Tendenz: Dutzende Künstler arbeiten weiter zusammen, um alten Gebäuden, Gässchen und kleinen Plätzen neue Farbe zu geben, wo „Helden“ der sardischen Kultur, internationale Stars und historische Persönlichkeiten dargestellt sind.
Sie sind auch in Selegas mit Szenen von starker emotionaler Wirkung und in den Orten des Hinterlandes von Cagliari, wie Capoterra und Monserrato zu sehen. Die Street Art kann sich auch im Sulcis durchsetzen: In Sant'Antioco kann man kreativen Routen unter freiem Himmel folgen, die die handwerkliche Tradition der bevölkerungsreichsten Stadt des Archipels von Sulcis würdigen. Mit alten und neuen Wandmalereien zählt Sardinien derzeit fast 2000 Werke, die über die gesamte Insel verstreut sind. Ein zusätzlicher Grund, um sie langsam und mit neugierigem Blick zu erkunden.